Rahmen und Ausgangslage
Die Geschäftsleitung der Baugenossenschaft mehr als wohnen hat unter dem Titel „mehr als kunst“ ein Kunst und Bau-Projekt gestartet, welches u.a. folgende zwei Ziele verfolgt: -> Kunst soll nicht nur im Zusammenhang mit der Baute realisiert werden, sondern als Bestandteil des gemeinschaftlichen Lebens in die neue Siedlung integriert werden. „mehr als kunst“ soll langfristig einen Beitrag zur Wohn- und Lebensqualität leisten und nachhaltig wirken. -> Es sollen Künstler beauftragt werden, die sich mit sozialen und räumlichen Prozessen auseinandersetzen und eine Affinität zur Baugenossenschaft haben.
Auftrag an das Atelier für Sonderaufgaben
Im Frühjahr 2013 wurden Frank & Patrik Riklin vom St.Galler Atelier für Sonderaufgaben beauftragt, ein Konzept zu entwickeln, das den Dialog zwischen Kunst und Architektur fördert und dem genossenschaftlichen Prinzip der Kooperation („Miteinander“) sowie der dialogischen Haltung Rechnung trägt. Unter dem Titel „Vision Social Urban Zone“ haben die beiden den Auftrag gekriegt, ihr künstlerisches Konzept in drei Phasen (Lancierung, Entstehung, Implementierung) umzusetzen.
Maximen der Riklin-Brüder
KUNST AM BAU IST MEHR ALS GESTALTUNG | Die Kunst am Bau soll mehr sein als ein Kunstwerk im klassischen Sinne. Sie soll als eine künstlerische Intervention im städtischen Raum verstanden werden. Die Intervention bringt den Ort in eine experimentelle Versuchsanordnung, die durch das „Ereignis der Kunst“ einen kulturellen Mehrwert sowie eine neue Wirklichkeit in Wahrnehmung und Nutzung des öffentlichen Raumes schafft. Dabei wird so weit als möglich auf klassische Gestaltungs- und Erscheinungsformen verzichtet.
KUNST AM BAU HAT EINE FUNKTION | Die Kunst am Bau soll sich so inszenieren, dass sie nicht bloss eine visuelle, ästhetische oder dekorative Unterhaltung ist, sondern eine sozial-dramaturgische und spielerische Dimension einnimmt. Dadurch hat die Kunst eine klare Funktion. Sie initiert durch den Eingriff eine städtebauliche Belebung. Mit dem Risiko, dass der Eingriff oder die Eingriffe zwischenzeitlich zur „Dekoration“ verkümmern, da die soziale Partizipation nicht funktioniert.
KUNST AM BAU ERZÄHLT EINE GESCHICHTE | Die Kunst am Bau soll Menschen miteinbeziehen und in einen Prozess der interaktiven Auseinandersetzung verwickeln. Die dabei entstehenden Geschichten sind Treiber und wichtiger Bestandteil der künstlerischen Vision. Sie verbreiten sich von Mund zu Mund und erzeugen öffentliches Interesse. Die Kunst am Bau wird zum Anziehungspunkt für neue und wiederkehrende Besucher und zelebriert sich selbst als künstlerisches Experiment. Das mögliche Scheitern ist Teil der Konzeptanlage des Kunstwerks und gehört zur Geschichte.
Vision Social Urban Zone
Die Social Urban Zone ist die Bezeichnung für einen Ort im öffentlichen Raum. Sie gilt als Instrument zur kollektiven Verunüblichisierung des Alltags und Steigerung der Attraktivität öffentlicher Plätze und Räume, wo sich Menschen aus verschiedensten sozialen Schichten spielerisch begegnen und aufhalten. Eine Social Urban Zone wird durch ein Konzept von interaktiven Kleinsteingriffen (auf dem Hunziker Areal durch das Quartiertelefon und die Ballspiele) in Kombination mit einem ungewohnten Trinkbrunnen bespielt und beeinflusst eine organische Entwicklung urbaner Räume. Der Trinkbrunnen ist kostenlos, offen zugänglich und fliesst nur so gut, wie sich die Menschen eines Stadtteils auf die Idee der Social Urban Zone einlassen. Die Währung heisst unübliche Handlung. Je mehr Dynamik, desto mehr Becher pro Stunde. Die verschiedenen Konstellationen und Inszenierungsmöglichkeiten, die sich vor Ort ergeben, widerspiegeln die Qualität und bringen den Glanz eines lebendigen sozialen Raumes individueller und kollektiver Entfaltung in den öffentlichen Raum zurück. Social Urban Zone wirken über den Planungsperimenter hinaus und bilden Identifikationspunkte für Stadtteile und Quartiere.
Zentraler Eingriff Trinkbrunnen
Der Trinkbrunnen kokettiert mit der Rolle eines Dorfbrunnens, wo sich Jung und Alt treffen und kennenlernen. Er besteht aus einer kleinen Wandöffnung in der Fassade, einem Blechtunnel sowie Druckknöpfen für das Auswählen der Flüssigkeiten. Der Trinkbrunnen ist ein 24 Stunden-Betrieb und offeriert den Vorbeigehenden eine ungewohnte, kostenlose Trinkquelle (Schoggi, Suppe, Tee, Kaffee, etc.). Durch das Integrieren der „Trinkquelle“ in einer Hausmauer wird die Installation zu einem ungewohnten Teil der Architektur, welche durch die reduzierte Formensprache und Ausgestaltung des Trinkbrunnens viel Raum für Fantasie, Vermutungen und Interpretationen zulässt. Was passiert, wenn eine solche Option geschaffen wird und sich als Attribut eines neuen Verständnisses für die Öffentlichkeit entwickelt?
Trinkbrunnenfluss
Der Trinkbrunnen fliesst nicht einfach so, sondern setzt die Partizipation der Menschen in Form von unüblichen Handlungen in ihrem Umfeld voraus. Ohne Mitwirkung trocknet der Brunnen aus. Das Spektrum der unüblichen Handlungen ist breit und lässt extrovertierte und stillere Interpretation zu. Entscheidend ist, dass die Wahl freiwilliger Natur ist. Jede unübliche Handlung kann nach der Ausführung dem Kunstwirt gemeldet werden, damit er sie erfassen und in die Auswertung einbeziehen kann. Ein sogenannter Sozialer-Identifikations-Index (SII) gibt an, wie viele Becher pro Stunde aus dem Brunnen fliessen. Dieser Wert wird monatlich durch den Kunstwirt von neuem berechnet. Folgende Indikatoren spielen dabei eine Rolle:
-> Anzahl unüblicher Handlungen der Bewohnerinnen und Bewohner
Die unüblichen Handlungen brechen mit den pers. Gewohnheiten und/oder mit gesellschaftlichen Normen. Die ausgeführten Interaktionen können jederzeit dem Kunstwirt gemeldet werden, damit er sie in die SII-Berechnung aufnehmen kann.
-> Anzahl Verbindungen über das Quartiertelefon
Das Quartiertelefon ermöglicht Anrufe ins Ungewisse und verbindet wildfremde Menschen miteinander, die sich sonst vielleicht nie begegnet wären. Ein Protokoll gibt Auskunft über jede zustande gekommene Verbindung. Die Rufnummer lautet 044 500 26 83.
-> Anzahl erzielter Tore im Rahmen der offiziell durchgeführten Ballspiele
Die Ballspiele werden vom Kunstwirt geleitet und finden zwischen zwei möglichst durchmischten „Häusermannschaften“ statt. Wandöffnungen wie Türen, Fenstern und Balkone bilden die Tore. Ambulante Kreidespuren auf dem Asphalt markieren die „Torräume“.
Kunst und Architektur im Dialog
Durch das Integrieren der „Trinkquelle“ in einer Hausmauer wird die Installation zu einem ungewohnten Teil der Architektur, welche durch die bewusst reduzierte Formensprache und Ausgestaltung des Trinkbrunnens viel Raum für Fantasie, Vermutungen und Interpretationen entstehen lässt. Vor allem die Tiefe des Trinkbrunnentunnels erzeugt in manchen Köpfen die illusorische Vorstellung, als ob man mit dem Arm direkt in eine private Küche hineingreifen würde. Andere wiederum sprechen von einem „Hole in the Wall“, also einem „Loch in der Wand“, wo etwas „Überraschendes“ herausfliesst, während die Kinder und Jugendliche ihre Vorstellungen vom Innenleben des Trinkbrunnens auf die Wand skizzieren – ganz im Sinne des Kasperlitheater „De Zauberbrunne i de Wüeschti“, welches die ursprüngliche Inspiration für den Trinkbrunnen von Frank und Patrik Riklin bot.
Das Buch zur Social Urban Zone
Zum genaueren Verständnis des Gesamtkonzepts und dessen Zusammenhänge hat jede Wohnungseinheit ein Buch von den Künstlern erhalten, worin beschrieben ist, wie man den Trinkbrunnen zum Fliessen bringen kann. Ziel ist, dass die Bewohnerinnen und Bewohner in die Rolle eines Gastgebers schlüpfen und ein unverwechselbares Image erhalten. Ein beigefügtes Plakat zeigt eine Illustration, was man sich unter einer unüblichen Handlung vorstellen kann. Entscheidend ist, dass die Wahl der „unüblichen Handlung“ absolut individuell und freiwillig ist.
Zahlen & Fakten zum Trinkbrunnen
Stand: Febr. 2016
- Trinkbrunnen fliesst seit 323 Tagen (davon 223 Tage am alten Standort an der Hagenholzstrasse)
- Insgesamt flossen bis heute rund 3000 Liter Flüssigkeit aus der Wand, was ca. 20’000 orangen Bechern entspricht.
- Der bisherige Schnitt liegt bei ca. 4 Becher pro Stunde (SII)
- Rund 50 Medien haben das Thema Social Urban Zone aufgegriffen und über den Trinkbrunnen berichtet